Roger Schutz, Gründer von Taizé, starb nach einem Attentat

So schwach war er zuletzt geworden, so langsam. Mit kleinen, behutsamen Schritten bewegte er sich durch die Menge. Zuletzt zeigte er sich fast durchscheinend und zerbrechlich in der Öffentlichkeit. Er mutete sich viel zu: Begegnungen ohne Zahl, große Gottesdienste, Besuche bei Kirchenleuten und Politikern. Er wusste, welche Wirkung von seiner Anwesenheit ausging. Er war mit seiner ganzen Person Botschafter, nicht nur in seinen leisen, fast singend dahingesprocheneu Worten. Auch wenn er nichts tat, als sich nachdenklich zum Gebet niederzulassen, registrierten ihn die Besucher von Taizé mit großem Respekt. Was Frömmigkeit ist, das konnten sie an ihm beobachten. Was Versöhnung ist, aus seiner Biografie lernen.
Roger Schutz ist tot. Der Neunzigjährige wurde Opfer einer 36-jährigen Rumänin, die ihn mit einem Messer bei einem Gottesdienst in Taizé schwer verletzte. Mit Stichen in Hals und Rücken starb der Ordensmann wenige Minuten nach dem Angriff. Tausend Gläubige waren Zeugen des Vorfalls. Die Täterin erklärte später der Polizei, sie habe Frère Roger auf sich aufmerksam machen wollen. Dass sie geistesgestört sei, schloss die Polizei aus. Selbst wenn sie's wäre, würde die Tragödie von Taizé nicht erträglicher.
Frère, Bruder: keine seltene Anrede für einen evangelischen Pfarrer. Aber bei Frère Roger hatte sie eine besondere Bedeutung. Sie kennzeichnete ihn als fast normales Mitglied seiner Ordensgemeinschaft. Mit dem Titel Prior, der ihm als Leiter der Gemeinschaft von Taizé zustand, angesprochen zu werden, das behagte ihm selten. Ein "Pater Prior", gar ein "Pater Abt", der lust- und freudevoll seine hierarchische Stellung zelebrierte, wollte er nicht sein.
Alle Welt wunderte sich, als er, der ausgemachte Reformierte, beim Trauergottesdienst für Papst Johannes Paul II. aus der Hand von Kardinal Joseph Ratzinger, dem baldigen Papst Benedikt XVI., das geweihte Brot gereicht bekam. Eine unerhörte Geste, wenn man bedenkt, mit welcher Akribie der Vatikan evangelische Christen von der katholischen Eucharistie ausschließt. Nur solche Christen, die sich in persönlicher Not befinden und die im Herzen das katholische Verständnis des Abendmahls bejahen, dürfen das geweihte Brot empfangen. Dem im Rollstuhl herbeigebrachten Frère Roger verweigerte der Kardinal, der als Präfekt der Glaubenskongregation wie kein anderer die Regeln der katholischen Kirche kennt, das Brot nicht. Sichtlich gerührt ergriff der alte evangelische Mönch danach den Arm des mächtigen Kardinals, der sich ein wissendes Lächeln gestattete. Die Gemeinschaft am Tisch des Herrn: Es sollte die letzte versöhnende Geste im Leben des Ordensmanns sein.
Roger Louis Schutz-Marsauche, wie sein voller Name lautet, durchlebte Zeiten extremen Hasses und mühsamer Versöhnung. Geboren wurde er am 12. Mai 1915 im Schweizer Jura. Zunächst wollte er Bauer und Schriftsteller werden. Als ein Lektor ihm zu sehr in die Arbeit hineinredete, wandte er sich der Theologie zu. Er studierte reformierte Theologie, beschloss dann im Krieg, 1940, nach Frankreich zu gehen, in die Heimat seiner Mutter. Er litt längere Zeit an Tuberkulose, interessierte sich zunehmend für klösterliche Lebensformen. Schon als er als Student an seiner theologischen Abschlussarbeit schrieb, hatte er begonnen nach einem Haus zu suchen, um zusammen mit anderen ein christliches Gemeinschaftsleben zu erproben. In dem wirtschaftlich heruntergekommenen 40-Seelen-Dorf Taizé, unweit von Cluny, dem Zentrum der mittelalterlichen Kirchenerneuerung, kaufte er für wenig Geld ein Gebäude nahe der Demarkationslinie zum besetzten Frankreich.
Schutz begann sofort damit, das angrenzende Grundstück zu bebauen, die einzige Kuh aufzupäppeln, eine winzige Kapelle einzurichten. Das Haus, kaum in Stand gesetzt, wurde in kürzester Zeit zu einer Anlaufstelle für Juden, Oppositionelle, Widerständler, die vor den Nationalsozialisten im besetzten Frankreich geflohen waren. Im Herbst 1942 - inzwischen war die Wehrmacht auch in den unbesetzten Teil Frankreichs einmarschiert - drang die Gestapo in das Haus ein und verschleppte einige der Flüchtlinge. Roger Schutz war in diesen Tagen damit beschäftigt, einen Flüchtling über die Schweizer Grenze zu bringen und konnte angesichts der Lage nicht nach Taizé zurückkehren. In Genf gründete er vorübergehend eine neue, dreiköpfige Gemeinschaft. Erst zwei Jahre später - Charles de Gaulle war inzwischen in Paris eingezogen - konnten sie nach Frankreich zurückkehren. Und dann geschah etwas, was typisch ist für den Geist von Taizé: Die Brüder der Gemeinschaft kümmerten sich sogleich um neue Hilfsbedürftige deutsche Kriegsgefangene, die in einem Lager in der Nähe des Dorfes untergebracht waren.
Erst Ostern 1949 legten sieben evangelische Männer ein Ordensversprechen ab: Sie wollten ihr Leben lang gehorsam, keusch und arm leben. Vor allem wollten sie den guten Worten Taten folgen lassen, zum Beispiel auf dem Feld der Ökumene. "Immer hatte ich nur einen Gedanken", erklärte Frère Roger bei vielen Gelegenheiten, nämlich unter den Teig der gespaltenen Kirchen ein Ferment der Gemeinschaft zu mengen." Auch dies ist typisch für den Geist von Taizé: Einige der Männer verließen Burgund, um in den Bergwerken bei Montceau-les-Mines zu arbeiten und die Arbeiter in ihrer Lebenswelt anzusprechen. Andere ließen sich in algerischen Elendsvierteln nieder, in einem Schwarzen-Ghetto Chicagos zu Zeiten von Rassenunruhen, in Ruanda oder Bangladesch. Das Ideal der Ökumene hielten sie auch hier hoch: im Kontakt mit Muslimen und Hindus.
Die Welt des Roger Schutz: In ihr gibt es keine konfessionellen Grabenkämpfe mehr; in ihr bauen gerade die Religionen Brücken zwischen den politischen Gegnern; das gemeinsame Gebet und die inständige Meditation werden zu Fundamenten einer gemeinsamen, gewaltfreien Kultur. Es gibt nicht wenige Westeuropäer, die sich am appellativen, oft moralisierenden Stil der Brüder von Taizé gerieben haben, auch daran, dass hier fromme Versenkung und liturgischer Minimalismus herrschen, theologische Dispute aber fast nicht vorkommen. Es ist ein Glaubenskonzept, das gleichwohl Hundertausende junge Menschen erreicht und das traditionelle kirchliche Leben auch in Deutschland um einen wichtigen Akzent bereichert.
Taizé verlor seinen Gründer und Inspirator. Frère Rogers Nachfolger steht bereits seit acht Jahren fest: ein 51 jähriger Katholik, gebürtig aus Stuttgart. Er ist seit 32 Jahren Mitglied der Bruderschaft, organisierte weltweit christliche Jugendtreffen. Sie wurden zur Vorlage für die katholischen Weltjugendtage. In Taizé trägt Frère Alois den Beinamen Erzengel, eine Chiffre für den viel umherreisenden Ordensmann. Dass er wie ein Engel zu sehr dem Jenseits verhaftet wäre, das würden seine Mitbrüder vehement bestreiten.
Eduard Kopp